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Einschätzung des Koalitionsvertrags

W.Kruse

Erste Einschätzung des Koalitionsvertrags im Lichte der 10-Punkte-Positionierung des BV NeMO,

auf der Mitgliederversammlung des vmdo am 3.12.2021

 

 

  • Aller Voraussicht nach wird es in der nächsten Woche eine neue Regierung geben. Dann beginnt das, was üblicherweise als erste 100 Tage bezeichnet wird. Es wird allgemein davon ausgegangen, dass in den ersten 100 Tagen einer neuen Regierung sichtbar wird, worauf es ihr ankommt und welches ihre wichtigen Projekte sind. Wenn etwas wirklich wichtig ist, dann werden in den ersten 100 Tagen auch schon Vorentscheidungen getroffen und Weichen gestellt.

  • Am 6. November fand hier in Dortmund die diesjährige Mitgliederversammlung vom Bundesverband Netzwerke von Migrantenorganisationen statt, ein Bundesverband, der vor 6 Jahren vom vmdo mitgegründet wurde und dem mittlerweile über 20 lokale Verbünde quer durch Deutschland angehören. Auf dieser Mitgliederversammlung wurde eine Art von Prüfkatalog zur neuen Bundesregierung entwickelt, nämlich 10 Punkte für die ersten 100 Tage.

  • Dieser 10-Punkte-Katalog steht unter der Überschrift: Fortschritt ist auch: Aus Deutschland eine gute Einwanderungsgesellschaft machen. Warum diese Überschrift? Die Ampel-Koalition bezeichnet sich selbst als Fortschrittskoalition. Der BV NeMO sagt: Fortschritte sind in vielen Feldern nötig, vor allem auch beim Klima. Zugleich müssen aber der Anerkennung der Tatsache, dass Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft ist - bald 30 Prozent der Menschen, die hier leben, kommen aus Familien mit Einwanderungsgeschichte oder sind selbst eingewandert - der Anerkennung dieses Sachverhalts müssen nun auch Taten folgen.

  • Besonders wichtig und dringend ist die Forderung nach Fortschritt für eine gute Einwanderungsgesellschaft, weil die Corona-Krise wie in einem Brennglas zeigt, dass Deutschland als Einwanderungsgesellschaft sich in einer tiefen Krise befindet.

  • Wieso kommt der BV NeMO zu dieser Einschätzung einer tiefen Krise der Einwanderungsgesellschaft Deutschland? Weil Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte insbesondere aufgrund ihrer sozialen Lage von Corona und ihren Folgen in besonders negativer Weise betroffen sind: im Gesundheitswesen, bei der Bildung, auf dem Arbeitsmarkt, in Hinblick auf beengte Wohnverhältnisse und durch verstärkten Rassismus, der auch eine Begleiterscheinung der Corona-Krise ist. Das deutlich zu machen, war auch ein wichtiges Anliegen des Vorstands des vmdo: in verschiedenen Veranstaltungen und im ECHO der Vielfalt.

  • Letzte Woche Donnerstag hat die „Ampel“ nun ihren umfangreichen Koalitionsvertrag vorgelegt. Er ist so etwas wie die Blaupause für das künftige Regierungshandeln und damit auch das Rahmenpapier für die ersten 100 Tage. Die Frage für den BV NeMO ist also: Was findet sich von den 10 Punkten und ihrer Begründung und Stoßrichtung im Koalitionsvertrag?

  • Bei einer ersten Durchsicht muss fairerweise festgehalten werden: es gibt viele Berührungs- und Anknüpfungspunkte. In Wort und Geist zeigt sich eine viel größere Aufgeschlossenheit gegenüber den Fragen, die mit einer guten Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft verbunden sind. Programmatisch deutlich wird dies in folgendem Satz: „Wir wollen einen Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik gestalten, der einem modernen Einwanderungsland gerecht wird. Dafür brauchen wir einen Paradigmenwechsel.“ Abgesehen einmal davon, dass durchgängig nach wie vor von Integration und nicht von Teilhabe die Rede ist, ist dies eine rundherum positive Aussage.

  • Gehen wir die 10 Punkte aus dem Katalog des BV NeMO kurz durch, dann sehen wir:

  • Punkt 1: Bildung & Gesundheit. Es gibt tragfähige Ansätze, ungleiche Bildungschancen abzubauen und das Gesundheitssystem auszubauen, es interkulturell zu öffnen und die Beschäftigten zu stärken. Insofern sind auch Lehren aus Corona angekommen.

  • Punkt 2: Für eine humane Asylpolitik. Hier ist eine gewisse Abkehr von der besonders ausgrenzenden Praxis des Seehofer-Ministerium zu erwarten, auch hinsichtlich eines faireren Aufenthaltsrechts und besserer Chancen zur raschen Arbeitsmarktintegration. Die bisherige Kettenduldung soll durch ein Chancen-Aufenthaltsrecht ersetzt werden, was immer dies bedeutet. Zwar soll das Konzept der Ankerzentren aufgegeben werden; auf der anderen Seite wird von einer „Rückführungsoffensive“, also von stärkeren Abschiebungen gesprochen und es bleibt vage, wie es mit der europäischen Asylpolitik weitergehen soll.

  • Punkt 3: Umweltgerechtigkeit und Globale Solidarität. Während Umweltgerechtigkeit in den Kapiteln zum Klimawandel behandelt wird, bleibt die Frage der globalen Solidarität im Sinne der Bekämpfung von Fluchtursachen vage.

  • Punkt 4: Teilhabe, durch gute Arbeit, und Vielfalt im ÖD. Mindestlohn und die Bekämpfung inhumaner Arbeitsbedingungen werden genannt, in Bezug auf Vielfalt kommen verschiedene Ansätze zum Tragen.

  • Punkt 5: Gegen Fachkräftemangel: Ausbildung und Einwanderung. Im Feld der Ausbildung gehen die Formulierungen nicht über Bekanntes und Übliches hinaus. Einwanderung wird als notwendig angesehen und deshalb soll das Einwanderungsgesetz überarbeitet werden, mit dem Ziel, es einfacher und stimmiger zu machen. Mehrfachstaatsbürgerschaft soll möglich, Einbürgerung erleichtert werden, aber es wird kein Wort über die bisherige Kopplung von Arbeitsverhältnis und Einbürgerung verloren.

  • Punkt 6: Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung. Hier gibt es eine Reihe von Ansätzen, die Forderungen auch aus den Reihen der Migrantenorganisationen aufnehmen, so z.B. den flächendeckenden Ausbau eines Netzwerks zivilgesellschaftlicher Beratungsstellen gegen Diskriminierung.Dieser lokale Ansatz findet sich auch beim Thema „Integration“ wieder, wo ausdrücklich auch die Migrantenorganisationen erwähnt werden.

  • Punkt 7: Gleiche politische Rechte für alle. Von einer Ausweitung des Wahlrechts – immerhin darf etwa ein Drittel der erwachsenen in Deutschland lebenden Menschen nicht an Wahlen teilnehmen, ist keine Rede.

  • Punkt 8: Statt Integrationsgipfel Pakt zur Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft. Hier werden ein Partizipationsgesetz und ein Partizipationsrat angekündigt. Der wohl so ähnlich wie der Ethikrat funktionieren soll. Unsere Idee eines Pakts geht darüber hinaus und ist dringlicher.

  • Punkt 9: Migrant*innen-Organisationen: unverzichtbar. Es wird erwähnt, dass sie stärker gefördert werden sollen. Mehr nicht.

  • Punkt 10: Masterplan „Über Corona hinaus“, also ein Sofortprogramm, das gegen die sozialen Folgen der Corona-Krise insbesondere auch für Menschen mit Einwanderungsgeschichte gerichtet ist. Hierzu gibt es keine Ansätze.

 

  • Das führt mich zu einer Gesamteinschätzung: Der Koalitionsvertrag enthält viele Punkte, deren Umsetzung tatsächlich zu einem erheblichen gesellschaftlichen Fortschritt führen würden. Der Vertrag ist aber klassisch nach Politikbereichen und Zuständigkeiten aufgebaut. Einwanderungsgesellschaft ist aber Wirklichkeit in allen Politikbereichen: es ist eine Querschnittsfrage. Fragen der Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft werden deshalb vor allem unter den üblichen Überschriften abgehandelt, nicht aber auch im Kapitel Bildung, im Kapitel Gesundheit, im Kapitel Klima, usw. Von daher fehlt eine Gesamtsicht auf den Zustand der Einwanderungsgesellschaft. Unsere Wahrnehmung, dass die Einwanderungsgesellschaft in der Krise ist, findet im Koalitionsvertrag keine Antwort.

  • Und schließlich: Vieles, was im Koalitionsvertrag steht, kommt einem beim Lesen und Hören auch deswegen sehr fortschrittlich und nahezu unglaublich frisch vor, weil es eben in wichtigen gesellschaftlichen Feldern, vor allem was die Einwanderungsgesellschaft betrifft, jahrelang Stagnation und sogar Rückschritt gegeben hat. Gut, dass es jetzt diesen Veränderungswill gibt, aber es geht vielfach um Nachholen dessen, was seit Jahren oder sogar Jahrzehnten überfällig ist.

  • Die 10-Punkte-Positionierung des BV NeMO ist also durch den Koalitionsvertrag erstens nicht erledigt und zweitens ist der Koalitionsvertrag ja erst einmal Programm: es wird viel darauf ankommen, was in den ersten 100 Tagen wirklich passiert. Der BV NeMO trifft sich zu einer Zwischenbilanz nach 100 Tagen am 21.März 2022 in Berlin.